Ritterorden
Heinrich III. der Erlauchte

Das Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte
an der TU Braunschweig informiert




Jahreswechsel und Silvesterbräuche in Braunschweig

Ein Gruß für die Freunde des Instituts für Braunschweigische Regionalgeschichte an der TU Braunschweig im Dezember 2010

von Prof. Dr.h.c. Gerd Biegel

Vor allem laut, bunt und fröhlich, gelegentlich nachdenklich, besinnlich und ein wenig abergläubisch – so haben auch in dieser Nacht die Menschen in Braunschweig wieder Silvester gefeiert: Kanonenschläge, Sonnenräder, bunte Raketen, vielfältiges Feuerwerk, Bleigießen, Feiern oder Kirchenbesuche und die Begegnung mit Freunden standen auf dem Programm, wobei wir allerdings die Einsamen und Kranken nicht vergessen wollen. Anders als zu Weihnachten, dem Fest innerhalb der Familie, gilt Silvester als Fest außerhalb des intimen Kreises, ein Fest mit Freunden, Verbrüderung mit Fremden auf der Strasse, in Kneipen, Festsälen und anderen Orten. Wie stets aber meldeten sich im Vorfeld die obligaten Bedenkenträger, die die Vermarktung  anprangern und als Argument vorschieben, der eigentliche Sinn und Ursprung des Festes sei auf dem Altar des Kommerzes geopfert worden. Gelegentlich dient ein Blick zurück in die Geschichte, um Ursprünge oder gewachsene Traditionen kennenzulernen und aus der Vergangenheit unsere Gegenwart besser beurteilen zu können.
Den Ausgangspunkt zur Erinnerung: Erwachsen aus christlicher Tradition stellt das Weihnachtsfest den Höhepunkt im jährlichen Festkalender dar. Die Erinnerung an die Geburt Christi und der Beginn eines neuen Jahres sowie das Auftreten der Heiligen Drei Könige am 6. Januar waren in der Geschichte stets zusammenhängende kulturgeschichtliche Momente des Festgeschehens und der Erinnerungskultur. Der Aspekt der Geborgenheit in der Familie, das Schenken und die romantische Verklärung im bürgerlichen Fest-Alltag waren grundlegende Elemente der seit etwa 1800 sich endgültig ausbildenden Familienweihnacht., während die Weihnachtsgeschichte eine lange Tradition seit der Antike besitzt. Auch beim Jahreswechsel kann man hinsichtlich der traditionellen Wurzeln weit in die Vergangenheit zurückgehen.

War schon immer der 1. Januar der Jahresanfang und Wo kommt der Name Silvester her?
Im alten Rom der vorchristlichen Jahrhunderter begann das Jahr mit dem 1. März, dem Tag des Amtsantritt der höchsten Beamten, der Konsuln. Damit begann sozusagen das »Geschäftsjahr«. Aber schon im zweiten Jahrhundert vor Christus, etwa um 153, feierte man zum ersten Mal den Jahresbeginn am 1. Januar, und die »Calendae Januariae« wurden dann seit Caesar zur großen Festzeit, während bis zur Kaiserzeit die »Saturnalien« als solche gegolten hatten. Ihr Höhepunkt war der 17. Dezember gewesen, und ihre ausgelassenen und ausgeprägten Festformen haben wahrscheinlich die Kalenderbräuche wesentlich mitgestaltet und beeinflußt. Die römischen Kalenderfeste aber wirkten wiederum ganz allgemein auf das Neujahrsbrauchtum der europäischen Christenheit ein und so auch auf das der Deutschen und später des Braunschweiger Landes. Im Gegensatz zu Osteuropa und dem Orient mit seinem feierlich terminierten Großneujahr, dem 6. Januar, war im germanischen Bereich der Beginn des neuen Jahres jedoch lange Zeit auf keinen bestimmten Tag festgesetzt. Das hing nicht zuletzt mit dem ständig wechselnden Kalender zusammen. Aber auch das Bedürfnis nach einem solchen fixierten und institutionalisierten Termin war nicht so groß, galt doch die gesamte Weihnachtszeit als Jahreswendezeit. Im 12. Jahrhundert hat sich die Zählung mit dem 1. Januar als Jahresbeginn verbreitet, für Deutschland etwas später.
Der 31. Dezember ist erst seit der Einführung des Gregorianischen Kalenders im Jahr 1582 der letzte Tag des Jahres. Kaum einmal erfährt man, wer dem letzten Tag im Jahr den so bedeutenden Namen gab: Es war Papst Silvester I., Oberhaupt der Kirche von 314 bis 335. Dieser Tag ist ihm geweiht. Über sein Leben und Wirken ist nur wenig bekannt. Silvester  regierte in einer für die Christenheit außerordentlich wichtigen Zeit: Man schrieb das Ende der furchtbaren Christenverfolgungen unter den römischen Kaisern und den Beginn einer neuen Epoche für die Gläubigen, indem das Christentum römische Staatsreligion wurde. Unter Papst Silvester I. vollzog Kaiser Konstantin der Große die grundlegende Umstellung der bisher christenfeindlichen römischen Staatsgewalt. Damit war Silvester der Papst, der nach Jahrzehnten der Angst und des Grauens während der Verfolgungen einen glücklichen Neuanfang erleben durfte.
Silvester war von Geburt Römer und dürfte um die Mitte des dritten Jahrhunderts zur Welt gekommen sein. Es ist ziemlich sicher, daß er noch vor dem Beginn der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian im Jahr 284 die Priesterweihe empfing, da er während der Verfolgungen einige Jahre in einem Versteck auf dem Monte Soracte bei Rom lebte. Genau 20 Tage, nachdem Papst Miltiades gestorben war, wurde Silvester am 31. Januar 314 zum Bischof von Rom und damit zum 34. Oberhaupt der Christen gewählt.
Vom Wirken des Papstes in den folgenden zwei Jahrzehnten ist kaum etwas bekannt. In seine Amtszeit fiel das Erste Allgemeine Konzil von Nicäa, das im Jahr 325 von Kaiser Konstantin wegen der Frage einberufen wurde, ob Jesus mit Gott wesensgleich sei. Papst Silvester I. entsandte zu dieser Reichssynode jedoch nur zwei Legaten, die keine besondere Rolle spielten. Und nach Beendigung des Konzils bestätigte er die dort gefassten Beschlüsse, die die Trinitätslehre des Arius, der die Gottheit Christi leugnete, in allen Punkten verwarf. Das Problem, wie sich die volle Gottheit Jesu Christi mit der Lehre, dass es nur einen Gott gebe, philosophisch vereinbaren lasse, ist in der römischen Kirche der damaligen Zeit offensichtlich nicht besonders erörtert worden; erst die Nachfolger Silvesters haben sich daran beteiligt. Später gibt es außer der Tatsache, dass Silvester 1. über den Priscilla-Katakomben in Rom eine Kirche erbauen ließ, kaum noch eine Nachricht über das Wirken des Papstes.
Von persönlichen Begegnungen mit Konstantin während der wenigen Romaufenthalte ist uns nichts überliefert. In der Stadt förderte der Kaiser jedoch Bau und Ausstattung von Kirchen in außerordentlichem Umfang. Als für die Zeit des Silvester I. gesichert dürfte die Errichtung der Lateranbasilika mit dem Baptisterium und der Peterskirche im Vatikan gelten. Bestattet wurde Silvester neben Märtyrern in der Priscilla-Katakombe an der Via Salaria, die wohl seit dem 6. Jahrhundert seinen Namen trug. Zu großer historischer Bedeutung gelangte Silvester I. als Gestalt der Legende, die im Gefolge der Auseinandersetzungen um die Ausbildung des Papsttums in Silvester I. die Gegenfigur zum Kaiser schuf, indem sie ihn mit der Bekehrung Konstantins verband: Der Kaiser habe als Heide zu Rom grausam die Christen verfolgt und sich, zur Strafe vom Aussatz befallen, nach einem Traumgesicht an den auf den Berg Soracte geflüchteten Papst Silvester I. gewandt und Heilung erlangt, als er sich von ihm taufen ließ. Zum Dank habe er das Christentum privilegiert, Kirchen gestiftet und den römischen Bischof zum Oberhaupt der Geistlichkeit bestimmt. Diese in den Actus Silvestri wohl am Ende des 4. Jahrhunderts in Rom niedergelegte Legende fand in lateinischen, griechischen und orientalischen Fassungen große Verbreitung. Zu weit reichender Wirkung kam sie jedoch erst, nachdem sie in Rom im 8. Jahrhundert zur Abfassung des Constitutum Constantini als eines der in den Actus genannten Privilegien verwendet worden war. Darin überläßt der Kaiser dem Papst Silvester I. die Stadt Rom und Hoheitsrechte über den Westen des Reiches, während er seine Herrschaft in den Osten verlegt. Etwa vom achten Jahrhundert an wurde diese Erzählung noch weiter ausgeschmückt, indem behauptet wurde, Konstantin habe dem Papst aus Dankbarkeit über die wunderbare Heilung die Stadt Rom sowie das ganze Abendland geschenkt und ihm erlaubt, die kaiserlichen Insignien zu tragen. Diese angebliche »Konstantinische Schenkung«, deren Gültigkeit und Echtheit immer wieder bestritten wurden, sollte während des gesamten Mittelalters der päpstlichen Partei zur Durchsetzung ihrer weltlichen Machtansprüche dienen und fortan das Bild Silvesters wie Konstantins prägen, bis sie im 15. Jahrhundert von Lorenzo Valla endgültig als Fälschung erwiesen wurde.
Papst Silvester I. starb am 31. Dezember 335, eineinhalb Jahre vor seinem großen Zeitgenossen Konstantin I. Beigesetzt wurde er in seiner Kirchengründung über den Priscilla-Katakomben. Wegen seines Gedenktages am Jahreswechsel wird Silvester als Patron für ein gutes neues Jahr angerufen, vor allem die Bauern bitten ihn um ein reiches Futterjahr und um Schutz für ihre Tiere.

Brauchtum und Aberglaube
Die Kirche aber, deren Jahresrechnung ja mit dem ersten Adventssonntag begann, hatte eigentlich mit dem Neujahrstag wenig zu tun und gedachte an diesem Termin lediglich der »Beschneidung des Herrn«, ein in Mittel –und Nordeuropa unpopuläres Festmotiv. Neujahr blieb ein weltliches Volksfest, wenn sich auch eine so pünktliche Feier des Jahresbeginns in ländlichen Bereichen lange nicht durchsetzen wollte. Nur in den Städten beschränkte sich die Neujahrsfeier bald ausschließlich auf diese eine Silvesternacht. Ihre Festelemente gleichen denen anderer Wendezeiten, wobei das Element des »Lärms« einen Bedeutungsschwerpunkt erhielt und beibehielt.
Wie mit allen Festtagen, so verbinden sich auch mit dem Jahreswechsel diverses Brauchtum und allerlei Aberglaube. Das Abendessen zu Silvester sollte mit der Familie oder mit Freunden erfolgen, denn das Essen »im Kreise« seiner Nächsten symbolisiert den Schutz vor Dämonen, die diesen Kreis nicht zerstören können. In der Nacht zum Jahreswechsel geht es schon seit Urzeiten um die Abwehr von bösen Geistern. Geknalle, lärmende Umzüge mit vermummten Gestalten bei denen Trommeln, Schellen und Peitschenknallen für den nötigen Krach sorgten, sollten diese fernhalten. In unserer Zeit wird dieses Brauchtum weltweit durch gigantische Feuerwerke ersetzt. Dabei geht es heutzutage nicht mehr um die Vertreibung von Dämonen. Trotz aller staatlichen oder polizeilichen Verbote ist diese Nacht erfüllt von Schießen und Knallen, dessen Ursprünge neben der oft erwähnten Dämonenabwehr schlichtweg ein Ausdruck der Ausgelassenheit der Freude über das bevorstehende neue Jahr war und ist. Alt und jung erfreuen sich an dem bunten Himmelsspektakel. Alleine in Deutschland werden Jahr für Jahr Knaller, Böller, Schwärmer und vor allem Raketen für mehr als 150 Millionen Euro in die Luft gejagt.
Seit der Antike hat der Jahreswechsel die Menschen besonders beschäftigt, wollte man doch durch unterschiedliche Aktivitäten Einfluß auf eine gute Zukunft nehmen. Dazu gehörten Geschenke und Glückwünsche. Diese wurden nicht nur mündlich überbracht, sondern auch schriftlich, denn man wollte das »Glück festhalten«. Auf römischen Münzen und Kunstwerken fanden sich daher Widmungen wie ANNUM NOVUM FAUSTUM FELICEM TIBI, was soviel heißt wie »Das neue Jahr sei dir ein glückliches und gesegnetes!«
»In den Dörfern östlich von Braunschweig zogen früher am Silvesterabend die Schulknaben Peitschen knallend von Haus zu Haus. Einer trat hinein und brachte seinen Neujahrswunsch an: Ich wünsche Euch ein fröhliches neues Jahr, Gesundheit, langes Leben und alles, was zu Eurer Lebenserhaltung und Notdurft gehört, worauf dann gewöhnlich eine kleine Gabe an Geld oder Lebensmitteln erfolgte. Bekam man nichts, so wurde der Unzufriedenheit über den Geiz des Hausbewohners durch folgenden Spruch Ausdruck gegeben:
Ich wünsche euch ein schlechtes neues Jahr,
Hunderttausend Läuse auf einem Haar.
Ein Kopf voll Schorf
und ein Arsch voll Würmer.
Gesitteter benahmen sich am Morgen des Silvestertages die Kinder in Beierstedt, welche, in kleinen Trupps von Haus zu Haus ziehend, Gesangbuchslieder (»Wiederum ein Jahr verschwunden« u. dergl.) sangen, aber auch, Gaben sammelnd:
Ich bin ein kleiner König,
Gebt mir nicht zu wenig. –
Laßt mich nicht zu lange stehn,
Ich muß noch ein Haus weiter gehen.
Erstere Verse können als Überrest von dem eingegangenen Dreikönigssingen gedeutet werden. Auch hörte man (z.B. in Eitzum) folgende Verse singen:
Schöne, schöne Rosen,
Die blühen auf dem Stengel.
Der Herr ist schön, der Herr ist schön.
Die Frau ist wie ein Engel.
In letztgenanntem Dorfe zogen am Silvesterabend die größeren Kinder und Knechte noch verkleidet umher, Lieder singend, Gaben und Geld erbittend zum gemeinsamen fröhlichen Silvesterschmaus.
Das Neujahrssingen hatte sich am längsten in den Dörfern am Drömling erhalten, wo Lehrer und Schuljugend einen Choral singend von Hof zu Hof zogen und dafür Speisen erhielten. Hirten und Hütejungen schlossen sich an und erschienen im Zuge. Voran die Schäfer, welche auf den Fingern pfiffen, da sie kein Instrument spielen, dann der Kuhhirt, der auf großem, glattem Horn blies; die Kälberhirten mit kleinem, gewundenen Horn, die Schweinehirten mit einer langen Tute, endlich Pferde- und Gänsehirten, die mit ihren Peitschen knallten.
An bestimmten Festzeiten, so auch am Silvesterabend oder am Neujahrsmorgen, gingen außerdem die Angehörigen gewisser Berufsgruppen von Haus zu Haus, um mit einem Gedicht oder Lied Glück zu wünschen. Hierher gehörte das Kurrendesingen der Schüler mit ihrem Lehrer. Daraus hatte sich seit dem 19. Jahrhundert vielerorts, vor allem auf dem Lande, ein Umgang nur der Schüler entwickelt. Im übrigen aber war diese Sitte aus unserer Region hauptsächlich bekannt von den Gesellen und Lehrlingen des Bäcker- und des Schuhmacherhandwerks, die den Kunden das Jahr über die Waren in das Haus getragen hatten, sowie in neuerer Zeit von Zeitungsträgern, besonders aber von Musikanten und Nachtwächtern. Noch in der Zwischenkriegszeit gingen letztere in manchen Dörfern um und riefen oder sangen vor den Haustüren:
»Ich wünsche fröhliches Neujahr
Glück und Segen immerdar
Gott bewahre dieses Haus,
die da gehen ein und aus.
In den schönen Himmelsgarten
da Euch Jesu wird erwarten.
Amen, Amen, das ist wahr,
wünsche fröhliches Neujahr.«
Aus anderen Teilen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sind derartige »Heischegänge« auch überliefert von Sänftenträgern, Laternenanzündern, Schornsteinfegern, Milchverkäuferinnen und Theaterdienern. Ein letztes Relikt stellt die mündliche Neujahrsgratulation der Müllwerker dar, wie sie heute noch vielerorts gepflegt wird, so früher auch in Braunschweig, allerdings aus »political correctness« ist auch dieser Brauch inzwischen weitgehend verloren gegangen. Geübt wurde die Sitte vor allem von Vertretern jener Berufe, die man heute dem »Dienstleistungsgewerbe« zurechnen würde. Dahinter standen handfeste materielle Gründe. Nach dem Herkommen erwartete der Gratulant ein Geschenk, das vielfach als Bestandteil des Lohnes angesehen wurde. Naturalien, vornehmlich Wurst, oder – weit häufiger – eine Geldsumme unterschiedlicher Höhe. So erhofften sich beispielsweise die Braunschweiger Bäckergesellen im 19. Jahrhundert von den Kunden einen »Guten Groschen«, von den Müllern aber eine größere Gabe in Form eines »Silbergroschens«.
Derartige Ausgaben belasteten allerdings den einzelnen Haushalt merklich. Daher wurde, besonders im 18. und im 19. Jahrhundert, immer wieder auf Abhilfe gesonnen. Zumindest in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sah die Obrigkeit diese Heischgänge, bei denen es nicht selten zu Exzessen kam, als Bettelei an. Es wurde ja in Verbindung damit nicht unmittelbar eine Leistung erbracht. Im Braunschweigischen wurden die Umgänge zu Neujahr gemeinsam mit denen zu Martini, Nikolai, Weihnachten und Fastnacht durch eine Verordnung von 1743 und eine weitere von 1747 verboten. Das freilich führte zu erheblichen Protesten Betroffener. Sahen diese doch, so etwa die Lehrer und Musikanten, eine derartige Sammlung als Gewohnheitsrecht an, die Einnahmen aber als unverzichtbar für ihren Lebensunterhalt. So mußte sich beispielsweise 1745 die Stadt Seesen bereit finden, ihren »Schulmeistern und Musicanten« zum Ausgleich des finanziellen Verlustes, den das Verbot mit sich gebracht hatte, jährlich zusätzlich eine feste Geldsumme zu bezahlen. Andernorts wurden beim Nachweis alter Berechtigungen, der freilich schwer zu führen war, Sondergenehmigungen erteilt, so u.a. den Lehrern in verschiedenen Orten am Harzrand.
Knaller, Feuerwerk, Kirchenglocken, Walzermusik und Sektkorken - Lärm und Musik sind inzwischen aus den meisten Kulturen genauso wenig wegzudenken wie die Glückwünsche. »Ein gutes und gesegnetes neues Jahr!« - so oder so ähnlich lauten die typischen Grüße oder Wünsche zum Neuen Jahr. Im privaten Umfeld wünscht man sich dagegen meist »einen guten Rutsch«. Wobei der »gute Rutsch« nichts mit einem »Hinüberrutschen« ins neue Jahr zu tun hat. Der Ausdruck geht auf das hebräische Wort »rosch« zurück, das »Anfang« bedeutet, also den Beginn des neuen Jahres. Sind dann die ersten Sekunden des neuen Jahres angebrochen, so stößt man auf den Silvesterpartys mit einem Glas Champus an und sagt »Prosit Neujahr« oder »Prost Neujahr«. Das Wort »Prosit« ist lateinisch und bedeutet »es möge gelingen«. Alle diese Neujahrswünsche drücken die Hoffnung aus, daß das neue Jahr Glück bringen werde.
Ein noch junger Brauch ist, das alte Jahr laufend zu verabschieden. An den immer beliebter werdenden Silvesterläufen beteiligen sich Tausende von Menschen. Der weltweit älteste und bedeutendste Silvesterlauf findet alljährlich in São Paulo in Brasilien statt.

»Klopfen an den Hühnerstall, Schuhe über die Schulter«
Im Brauchtum des Braunschweiger Landes finden sich über Jahrhunderte hinweg zahlreiche Spuren heidnischen Aberglaubens. So heißen die Tage zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag am 6. Januar »die Zwölften«. In dieser Zeit durfte noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf dem Land nicht gesponnen werden, da sonst der Flachs im neuen Jahr nicht wachsen werde. Der Mist sollte im Stall bleiben, da sonst der Wolf das Vieh oder der Fuchs die Gänse hole. Wenn während »der Zwölften« jemand stirbt, so überlieferte der Aberglaube  im Dorf Waggum, sterben im folgenden Jahr dreizehn Menschen im Dorf.
Außer dem Spinnen war noch allerlei Handwerk und Arbeit in den Zwölften untersagt, so z.B. das Flicken; wer dann flickt, hat das ganze Jahr zerrissene Hosen. (Klein Schöppenstedt) Dieses Abstehen von der Arbeit und der Warnung vor derselben hing mit der ursprünglichen Heiligkeit der Tage zusammen, die beginnen, wenn die Sonne ihren Wendepunkt erreichte und bis zu der Frist reichte, wenn die Tage sich wieder zu längen anfangen.
Immer also waren Arbeiten in diesen Tagen mit schlimmen Folgen und Unglück verbunden, denn »die Zwölften« galten als eine heilige, dem Frieden und der Ruhe gewidmete Zeit. Gemeinsam feiern, Glückwünsche austauschen und Geschenke machen, bedeuteten dagegen Hoffnung auf ein erfolgreiches neues Jahr, waren Ausdruck für den Wunsch nach Zufriedenheit oder Reichtum.
Zu den Bräuchen der Neujahrsnacht dagegen zählte nicht nur das Bleigießen in Stadt und Land, sonder auch andere Bräuche belegen den Aberglauben dieser wichtigen Nacht. Mädchen etwa warfen Apfelschalen über die Schulter und erwarteten, aus der Lage der Schalen die Anfangsbuchstaben vom Namen des zukünftigen Bräutigams deuten zu können. Andere wiederum klopften am frühen Morgen an den Hühnerstall. Wenn der Hahn zuerst antwortete, war dies ein Zeichen für eine baldige Verlobung. Ganz anders dagegen das sogenannte Schuhorakel der Knechte und Mägde auf dem Braunschweiger Land. Sie setzten sich auf den Fußboden und warfen ihre Schuhe über den Kopf. Zeigte die Spitze des Schuhs auf die Tür, bedeutete dies, dass man sich im kommenden Jahr eine neue Stelle suchen müsse, im ungekehrten Fall blieb man auch weiterhin im bisherigen Dienst.

Zum Jahreswechsel haben Glücksbringer Hochkonjunktur
Eine ganze Reihe an Deutungen und Glücksbringern beeinflussen die Feiern zum Jahreswechsel bis heute. Diese Bräuche gehörten schon seit ewigen Zeiten zum magischen Denken und Handeln der traditionellen Gesellschaften. Dabei dreht sich alles um die Verabschiedung des alten Jahres und die Begrüßung des neuen. Hintergrund des ausgelassenen, manchmal ausschweifenden Feierns ist die Hoffnung auf Fruchtbarkeit und Wohlstand im neuen Jahr. Beliebt sind die »Glückspfennige«, die gemäß der alten Volksweisheit »wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert«, ihre glücksbringende Bedeutung bis heute aufrechterhalten konnten. Der Glückspfennig, in Zeiten des Euros eigentlich Glückscent, aber das sagt kaum Einer, ist ein Symbol für Reichtum. Indem man ihn symbolisch verschenkt, wünscht man dem Empfänger, daß diesem niemals das Geld ausgehen möge. Des Hufeisens Aufgabe dagegen ist es, als Talisman Haus und Hof zu schützen und Fremden den Eingang zu verwehren. In früheren Zeiten wurde es auch an Schiffsmasten genagelt - selbst Admiral Nelson sorgte dafür, daß die »Victory« nicht ohne diesen Glücksbringer in See stach.
Warum bringen Schornsteinfeger Glück?
Erst das Feuer machte in Urzeiten aus den Behausungen der Menschen eine Wohnung. Das Feuer diente zu Heiz- und Wohnzwecken. Aber das Feuer konnte Fluch und Segen gleichermaßen sein. Brände zerstörten schon so manches Haus und damit das Glück und oft auch die Existenz der Familie. Der Schornsteinfeger hat schon früh (seit dem Mittelalter) durch seine Arbeit dazu beigetragen, solche Unglücksfälle zu verhindern. Er reinigt die Schornsteine und verhinderte somit Schornsteinbrände und wies die Bauherren auf die nötigen Abstände zu brennbaren Bauteilen hin. Auch heute noch schützt er durch vorbeugenden Brandschutz vor unangenehmen Überraschungen. Durch die regelmäßige Überwachung der Schornsteine und Feuerungsanlagen, hilft der Schornsteinfeger immer noch Schäden an Gesundheit und Eigentum zu verhüten. Schornsteinfeger oder Kaminkehrer gelten aber auch als Glücksbringer, weil sie aus den genannten Gründen des Brandschutzes immer als erste am Neujahrsmorgen durch die Straßen gingen und zum neuen Jahr gratulierten.
Glück kommt auch aus dem Blumentopf. Die Rede ist natürlich vom vierblättrigen Klee, dem »Glücksklee«, welcher dem Volksglauben nach Glück bringen soll. Das geheimnisumwitterte Kleeblatt stammt eigentlich aus Mexiko und beflügelt geheime Wünsche und Hoffnungen zum Jahreswechsel. Weit verbreitet sind auch Glücksschweine, meistens aus Marzipan. Schon für die alten Germanen war der Eber heilig. Das Schwein gilt als Symbol der Fruchtbarkeit und damit als Zeichen für Wohlstand und Reichtum. »Schwein gehabt zu haben« bedeutet bei uns daß einer viel Glück gehabt hat. Wer über viel »Schwein« verfügte, galt bei den Griechen und Römern als privilegiert und gut situiert. Der Marienkäfer gilt als Himmelsbote der Mutter Gottes, daher der Name. Beschützt die Kinder und heilt die Kranken, wenn er ihnen zufliegt. Niemals abschütteln oder gar töten - das bringt Unglück. Ganz sicher geht man, wenn man die Glücksbringer addiert. Der Handel hat sich längst auf die Vermarktung, des auch noch in heutiger Zeit weit verbreiteten Aberglaubens, spezialisiert. Selbst im Supermarkt lassen sich Glücksschweine aus Marzipan, Marienkäfer aus Schokolade, kleine Töpfchen mit Glücksklee, dekoriert mit einem Schornsteinfeger oder einem Glückspfennig, kaufen. Egal, wenn's hilft, denken sicher viele, und letztlich versetzt der Glaube bekanntlicherweise auch Berge.
Auch beim Jahreswechsel kann man die traditionellen Wurzeln bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. Seit der Antike hat der Jahreswechsel die Menschen besonders beschäftigt, wollte man doch durch unterschiedliche Aktivitäten Einfluß auf eine gute Zukunft nehmen. Dazu gehörten Geschenke und Glückwünsche. Diese wurden nicht nur mündlich überbracht, sondern auch schriftlich, denn man wollte das »Glück festhalten«. Auf römischen Münzen und Kunstwerken fanden sich daher Widmungen wie ANNUM NOVUM FAUSTUM FELICEM TIBI, was soviel heißt wie »Das neue Jahr sei dir ein glückliches und gesegnetes!«
Vergleichbar dazu fanden in Braunschweig kleine gedruckte Glückwunschzettel im 18. Jahrhundert besondere Vorliebe beim Bürgertum. So konnte man am 5. Dezember 1770 in den »Braunschweigischen Anzeigen« eine Notiz der Buchhandlung Meyer auf der Breiten Straße lesen, in der »neue moralische und scherzhafte Wünsche für das Jahr 1771« angeboten wurden. Sie waren zunächst nur mit kurzem Gruß und einem Glückwunsch zum Jahreswechsel versehen. Mit der Zeit jedoch wurden diese Kärtchen immer aufwendiger gestaltet und mit Sinnsprüchen, Gedichten und schließlich mit bildlichen Darstellungen geschmückt. Beispiele aus den Jahren 1784, 1786 und 1788 lassen erkennen, dass entsprechend dem Zeitgefühl diese Neujahrsgrüße im wahrsten Sinne des Wortes »Denkmäler der Freundschaft« darstellten und so an die römische Tradition der Neujahrsgrüße erinnerten. Im 19. Jahrhundert verloren diese Glückwünsche zum Neuen Jahr überwiegend ihren individuellen Charakter. Seit etwa 1870 schließlich gab es Serien von Bildpostkarten mit eingedruckten Neujahrglückwünschen. Meist hatte man dazu handelsübliche Ansichtskarten genutzt worden, versehen mit einem zusätzlichen Eindruck und einem handschriftlichen Gruß.
Schon seit Jahrhunderten hatte man mit allerlei Bräuchen zum Jahreswechsel böse Geister und Mächte, aber auch die Sünden des alten Jahres vertreiben wollen und so wird bis heute am Neujahrstag fröhlich die Erneuerung der Welt und des Lebens gefeiert. Auch die Glückwünsche zum Neuen Jahr oder alte Orakelbräuche wie Bleigießen in der Silvesternacht u.a. entspringen altem Aberglauben, dessen Spuren im Brauchtum des Braunschweiger Landes zu finden sind. So heißen die Tage zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag am 6. Januar »die Zwölften«. In dieser Zeit durfte noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf dem Land nicht gesponnen werden, da sonst der Flachs im neuen Jahr nicht wachsen werde. Selbst die Wäsche durfte nicht geflickt werden. Wer es dennoch tat, hatte das ganze Jahr zerrissene Hosen. Wenn während »der Zwölften« jemand stirbt, so überlieferte der Aberglaube  im Dorf Waggum, sterben im folgenden Jahr dreizehn Menschen im Dorf. Immer also waren Arbeiten in diesen Tagen mit schlimmen Folgen und Unglück verbunden, denn »die Zwölften« galten als Tage der Ruhe und des Friedens. Gemeinsam feiern, Glückwünsche austauschen und Geschenke machen, bedeutete dagegen Hoffnung auf ein erfolgreiches neues Jahr und waren Ausdruck für den Wunsch nach Zufriedenheit oder Reichtum.
Zu den Bräuchen der Neujahrsnacht zählte nicht nur das Bleigießen in Stadt und Land. Wer etwa einen Garten hatte, ging in der Neujahrsnacht zu seinen Obstbäumen, umwickelte sie mit Stroh und hoffte so auf reiche Ernte im neuen Jahr. Aber auch persönliche Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen spielten eine große Rolle. Mädchen etwa warfen Apfelschalen über die Schulter und erwarteten, aus der Lage der Schalen die Anfangsbuchstaben vom Namen des zukünftigen Bräutigams deuten zu können. Andere wiederum klopften am frühen Morgen an den Hühnerstall. Wenn der Hahn zuerst antwortete, war dies ein Zeichen für eine baldige Verlobung. Ganz anders dagegen das sogenannte Schuhorakel der Knechte und Mägde. Ihre Sorge galt dem Arbeitsplatz: Sie setzten sich auf den Fußboden und warfen ihre Schuhe über den Kopf. Zeigte die Spitze des Schuhs auf die Tür, bedeutete dies, dass man sich im kommenden Jahr eine neue Stelle suchen müsse, im ungekehrten Fall blieb man auch weiterhin im bisherigen Dienst.

Wilde Knallerei in der Silvesternacht: Verbot durch Herzog Carl I.
Ganz offenbar wurde auch schon in früheren Zeiten in der Silvesternacht kräftig geschossen, geknallt und Feuerwerk abgebrannt. Dabei war dieses Vergnügen mit so großen Gefahren verbunden, daß die Regierung mit Verboten eingreifen mußte. Im Dezember 1750 untersagte Herzog Carl I. (1713-1780) bei Strafe das Schießen in der Neujahrsnacht, denn »obgleich das mit so vieler Feuersgefahr und anderem daher zu besorgendem Unglück verknüpfte Schiessen in der Neu=Jahrs-Nacht so oft und bey harter Strafe verboten worden; so vernehmen Wir dennoch höchstmissfällig, daß die wenigsten sich daran kehren, und daß viele der Strafe entgehen, weil nicht allemal ausgemacht werden kann, wer das Schiessen gethan hat.«
Noch im Dezember 1840 erließ die Polizeidirektion in Braunschweig eine Verfügung, die u.a. feststellte: »Alles unbefugte Schießen aus Feuergewehren (...) nicht weniger das Abbrennen von Feuerwerken und Kanonenschlägen, ist sowohl innerhalb der Stadt, als auch außerhalb derselben in dem Umkreis des Stadtbezirks zu jeder Zeit und unter allen Umständen untersagt.«
Unsere heutigen Bräuche sind also nicht etwa Folge der Kommerzialisierung der Feiern zum Jahresende und Jahreswechsel, sondern einer bereits jahrhundertealten Tradition entsprungen, die selbst Verbote nicht aufhalten konnten. Die Geister wurden stets lautstark vertrieben.
Am Ende des Jahres 2010 werden die Menschen auch in der Stadt Braunschweig wieder in dieser Tradition die Schrecken des vergangenen Jahres vertreiben und  hoffen, daß »das Morgen ein besseres Gestern werden wird«. Vor allem anderen aber wünschen sich die Menschen Frieden: das wünscht auch der Chronist und Direktor des Instituts für Braunschweigische Regionalgeschichte an der TU Braunschweig allen Freunden der Geschichte in Stadt und Land.

Ricarda Huchs Neujahrsbetrachtung für die Deutschen
Während die Kultur gegenwärtig im gesellschaftlichen Diskurs an Bedeutung verliert, steigt das Interesse an Erinnerungskultur, wie zahlreiche Gedenkveranstaltungen auch 2010 – so etwa zu von Ricarda Huch bei dem Projekt Frauenorte in Niedersachsen– gezeigt haben. Für Thomas Mann war sie 1924 »die erste Frau Deutschlands, wahrscheinlich die erste Europas« und dieses ungewöhnliche Urteil wurde nur noch von dem ihres Kölner Verlegers Joseph Caspar Witsch übertroffen: »Ricarda Huch ist die größte europäische Schriftstellerin .Ich wüsste auch ....keinen Autor zu nennen – nicht einmal Thomas Mann -, keinen französischen und keinen englischen, der ihr gewachsen wäre an Universalität ... wir müssen schon fast zu Goethe zurückgehen und zu den großen Erscheinungen des 18. Jahrhunderts in Frankreich und England, um Entsprechendes zu finden«. Ricarda Huch hatte stets klar Position gegen das nationalsozialistische Regime bezogen, mußte Rückschläge und Demütigungen hinnehmen, blieb aber unbeugsam und hat selbst mit ihrem Ideal des »Deutschen Reiches« im Mittelalter deutlich gemacht, was sie von dem »Reich der Gegenwart« hielt. Sie hatte damit viel gewagt, letztlich aber doch gewonnen und sie blieb in Deutschland und lebte bei Kriegsende in Jena. Von den amerikanischen Besatzungstruppen in Thüringen unbeachtet, von den Russen schließlich zuvorkommend behandelt, versuchte die greise Schriftstellerin zuletzt den Widerstandskämpfern gegen das nationalsozialistische Regime ein literarisches Denkmal zu setzen. Wieder einbezogen in das öffentliche Leben, meldete sie sich mehrfach mit Beiträgen in Zeitungen zu Wort, so am 1. Januar 1946 mit einer »Neujahrsbetrachtung« in der »Täglichen Rundschau«:
Zum ersten Mal wieder nach langen Jahren konnten die Menschen in Deutschland zu Silvester 1945 den Jahreswechsel in Freiheit und ohne Krieg begehen. Die Schreckenszeit des Nationalsozialismus war beendet, das Elend im Alltag allerdings noch lange nicht. Und mehr als zwanzig Jahre sollte es in Deutschland dauern, bis die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit Fragen der Schuld und dem Problem Täter und Opfer einsetzte. So lange überwog die faktische Kraft der Verdrängung. In jüngster Zeit findet mit den Themen »Bombenkrieg« oder »Flucht und Vertreibung« ein Diskurswechsel in der deutschen Gesellschaft statt, der eine neu definierte Opferrolle der Deutschen prägt.
So aktuell aber ist diese Problematik keineswegs, denn genau damit hat sich die braunschweigische Schriftstellerin Ricarda Huch zum Jahreswechsel vor 61 Jahren beschäftigt. Die Redaktion der »Täglichen Rundschau« in Berlin hatte sie um eine »Neujahrsbetrachtung« für die Deutschen gebeten, die am 1. Januar 1946 erschien. Ricarda Huch wies darauf hin, daß gegenwärtig die Folgen der aufgehäuften Schuld erlitten würden, aber auch die Gefahr bestehe, »über unsere Leiden unsere Schuld zu vergessen«. Selbst wenn es Deutsche gegeben habe, die über die Untaten der Regierenden entsetzt waren oder das Regime der Nazis unter Lebensgefahr aktiv bekämpft haben, so mache das »die Verbrechen, die geschahen, nicht ungeschehen«. Menschen, wie etwa die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 »haben dadurch die Ehre des deutschen Volkes gewahrt, es aber nicht von der Schuld befreit, in die die begangenen Verbrechen es verstrickten«. Diese Neujahrsbotschaft war die Aufforderung von Ricarda Huch an die Deutschen, sich der furchtbaren Taten schuldig zu bekennen, »die mit Höllenfeuer in die Geschichte eingebrannt sind«. Die Zukunft eines Volkes kann nur in der Verantwortung jedes einzelnen für Recht und Freiheit liegen, so ihr Appell. Diese Verantwortung ist von jedem Bürger zu fordern, denn er muß begreifen, »daß ein Volk sich nicht als ein Haufen von Privatleuten abseits von der Regierung stellen und sie schalten lassen kann, ohne sich dafür verantwortlich zu fühlen«. Ricarda Huch beendete ihren Neujahrsgruß vor 61 Jahren mit der Frage der Opferrolle der Deutschen und diese Antwort hat auch im Hinblick auf die gegenwärtigen Veränderungen der Sichtweisen eine große Bedeutung: »Betrachten wir uns nicht als Opfer, sondern als solche, die mit der Hölle im Bunde waren und wunderbar gerettet sind«. Hier nahm sie bereits in kluger Beurteilung eine Diskussion vorweg, die in Deutschland durch die bewußte Verdrängung der Zeitgeschichte erst in den 1970er Jahren einsetzen sollte. Dieser Text sollte aufgrund seiner Bedeutung zur Pflichtlektüre in jedem Schulunterricht bestimmt werden.
Die Erinnerung an die Vergangenheit kann uns so auch die Grundlage zur Gestaltung der Zukunft bieten und in diesem Sinne wünscht der Chronist allen Leserinnen und Lesern ein hoffnungsfrohes und gutes Jahr 2011.